Zwei Tage vor
dem Weihnachtsfest tanzten die ersten Schneeflocken durch die Luft und legten
sich auf die Straßen und Häuser der kleinen Stadt, in der Emma lebte.
Emma rannte
vergnügt zum Fenster und sah hinaus. Die Laterne vor dem Haus, die Autos und
jeder Stein sah aus, wie mit Puderzucker bestreut. Sogar die Menschen hatten
weiße Häubchen auf ihren Köpfen.
Das war
herrlich, fand Emma. Noch zwei Tage bis Weihnachten und schon jetzt sah alles
festlich aus. Schnee gehörte für Emma einfach zum Heiligen Abend, genauso wie
der Tannenbaum, das Krippenspiel und Plätzchen backen. In diesem Jahr schneite
es kräftig, und immer dickere Flocken fielen vom Himmel herunter.
Emma war sehr
glücklich!
Sie lehnte sich
ans Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße. Dann blickte sie zum
Haus gegenüber. Einige Fenster waren dunkel, in anderen blinkten bunte Lichter
und einige waren einfach nur erleuchtet vom Schein der Zimmerlampen.
Ganz oben unter
dem Dach wohnte Katja, Emmas beste Freundin. Die Fenster ihres Zimmers waren
mit goldenen Papiersternen geschmückt. Die hatte sie in der Schule gebastelt.
Emma hatte silberne Sterne gebastelt, die jetzt alle im Weihnachtsbaum hingen.
Das Fenster im
zweiten Stock beobachtete Emma in der letzten Zeit oft. Dort wohnte der alte
Herr Lehmann. Er saß abends immer im Dunkeln an seinem Fenster und sah hinaus.
Emma hatte zwar das Gefühl, dass er sie bemerkt hatte, aber er sah nie zu ihr
herüber. Als Frau Lehmann noch lebte, war alles ganz anders gewesen. Da hatte
Herr Lehmann manchmal freundlich genickt oder kurz gewunken. Und zur
Weihnachtszeit hatte sogar ein Stern im Fenster geblinkt. Im letzten Sommer war
Frau Lehmann gestorben, und das Fenster blieb nun dunkel.
Emma war ein
lustiges Mädchen, das gern laut lachte, aber wenn sie an Herrn Lehmann dachte,
dann wurde sie doch traurig.
„Niemand sollte
Weihnachten so alleine im Dunkeln an seinem Fenster sitzen“, sagte sie und ging
zu ihrer Mutter in die Küche.
„Willst du mir
helfen?“, fragte diese, aber sie sah sofort, dass ihre Tochter mit ihren
Gedanken ganz weit weg war. „Australien oder Afrika? Woran denkst du gerade?“
Emma
schmunzelte. Nein, an andere Kontinente hatte sie nicht gedacht. Ihr ging
einfach der alte Herr Lehmann nicht aus dem Kopf.
„Ich hab’ mir
was überlegt.“ Emma sah ihre Mutter mit großen Augen an und zog dabei eine
Augenbraue hoch. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie eine gute Idee hatte
oder nur wieder einen Flop landen würde. So nannte es jedenfalls ihre Freundin
Katja immer, wenn irgendetwas völlig anders verlief als geplant.
„Erzähl’ schon.
Worum geht es denn?“. Emmas Mutter war neugierig geworden. Sie setzte sich an
den Küchentisch, auf dem sich schon Mehl, Zucker, Rosinen und andere Backzutaten
häuften, und deutete auf einen weiteren Stuhl. Emma setzte sich. Erst druckste
sie ein bisschen, aber dann erzählte sie von ihren Beobachtungen.
„Ja, das ist
schon traurig, aber was kannst du tun?“, fragte die Mutter, und dabei ahnte sie
schon, dass ihre Tochter längst einen Plan hatte.
Am nächsten Tag wurden die letzten
Weihnachtsvorbereitungen getroffen. Der Vater half bei den letzten Einkäufen,
die Mutter verpackte noch die letzten Geschenke, und Emma bereitete einen
leckeren Teig aus Vanille und Zimt zu. Am liebsten hatte sie nämlich
Zimtsterne, und die wollte sie auch backen. Sie wirbelte zwischen Mehl und
Puderzucker herum. Eier platschten in eine Schüssel, der Mixer heulte, dann
wieder sang eine fröhliche Kinderstimme:
„Weihnachtszeit,
schöne Zeit, bin schon für das Fest bereit“.
Am Abend
blickte Emma stolz auf einen großen Teller voller Zimtsterne. Einen zweiten,
kleinen Teller hatte sie daneben gestellt und ebenfalls reichlich Gebäck
draufgelegt.
In dieser Nacht
schlief sie tief und fest.
Gleich nach dem
Wachwerden setzte sich Emma an ihren Schreibtisch, der gleich neben dem Fenster
stand. Wenn sie den Kopf zur Seite beugte, konnte sie die Fenster des
gegenüberliegenden Hauses sehen. Herr Lehmann war nicht da.
Bestimmt
schläft er noch, dachte sich Emma und holte ihre Buntstifte aus der Schultasche
hervor. Dann nahm sie ein weißes Blatt und begann zu malen. Schön bunt und
fröhlich sollte das Bild werden, aber am meisten benutzte sie doch den goldenen
Stift.
Sie malte einen
Engel mit goldenen Haaren. Eine goldene Trompete war oben links in der Ecke.
Goldene Sterne blinkten überall auf dem Bild. Nur unten rechts hatte sie eine
rote Kerze gemalt.
Am Nachmittag
als es langsam dunkel wurde, zog sich Emma ihre Stiefel und die dicke Jacke an.
„Es ist soweit,
Mama, ich gehe jetzt!“, rief sie ihrer Mutter zu. Sie nahm den Teller mit den
Zimtsternen, den die Mutter mit Weihnachtspapier umwickelt hatte. Das Bild mit
dem Engel hatte sie gefaltet und in ihre Jackentasche gesteckt.
Sie ging
hinunter auf die Straße. Der Schnee wirbelte wild, und eine dicke Flocke
platschte auf ihre Nase. Emma ging weiter. Sie guckte nach links und rechts als
sie die Straße überquerte, aber es war kein Auto unterwegs.
Die Leute
feiern alle schon das Weihnachtsfest, dachte sie sich.
Dann stand sie
vor dem Klingelschild vom Haus, in dem Katja und Herr Lehmann wohnte.
Eigentlich wollte sie die Kekse einfach vor Herrn Lehmanns Tür legen. Sie
sollten ja eine Überraschung sein. Aber nun musste sie wohl doch klingeln, um
ins Haus zu kommen. Daran hatte sie nicht gedacht.
In diesem
Moment sagte jemand:
„ Hallo, bist
du die Katja?“
Emma fuhr herum
und konnte es kaum glauben. Da stand tatsächlich der Weihnachtsmann vor ihr.
Sie konnte gar nicht sprechen vor Aufregung, deshalb schüttelte sie nur den
Kopf.
„Wie heißt du
denn? Willst du ins Haus?“
Der
Weihnachtsmann war aber sehr neugierig, fand Emma.
In diesem
Augenblick hatte sie aber eine tolle Idee.
„Wenn du zu
Katja gehst, würdest du mir dann einen Gefallen tun?“. Emma konnte wieder
reden. So erzählte sie dem Weihnachtsmann von den Zimtsternen und von Herrn
Lehmann.
„Die Zimtsterne
sollen ein kleines Geschenk sein“, endete Emma.
Der
Weihnachtsmann nickte, nahm den Teller und drückte auf den Klingelknopf. Der
Summer ertönte, und die Tür sprang auf. Weihnachtsmänner müssen also auch
klingeln, stellte sie überrascht fest.
Doch dann fiel
ihr etwas Wichtiges ein.
„Halt!“, rief
Emma und griff in ihre Jackentasche. „Hier, das gehört noch dazu.“
Sie reichte dem
Weihnachtsmann ein zusammengefaltetes Stück Papier. Der Weihnachtsmann nickte,
nahm das Papier und verschwand im Haus.
Emma wartete in ihrem Zimmer darauf, dass
die Mutter kam und sie ins Wohnzimmer holte. Dort wurde die Bescherung
gefeiert. Alles war ganz ruhig und feierlich. Ganz leise hörte sie „Stille
Nacht“ erklingen.
Emma ging noch
mal ans Fenster. Sie war neugierig, aber sie hatte auch Angst, enttäuscht zu
werden.
Sie wurde nicht
enttäuscht. Am Fenster im zweiten Stock saß Herr Lehmann. Er hatte eine kleine,
rote Kerze angezündet und blickte auf ein Stück Papier, das er in den Händen
hielt. Ein warmes, glückliches Gefühl kribbelte in Emmas Bauch.
Ich werde ihn
mal besuchen, überlegte sie.
In diesem
Augenblick drehte Herr Lehmann seinen Kopf zu ihr herüber und lächelte. Dann
griff er zum Teller, nahm einen Zimtstern und steckte ihn in seinen Mund.
Emmas Plan war
geglückt. Sie erlebte ein wunderschönes Weihnachtsfest, und auch Herr Lehmann
konnte wieder ein bisschen lächeln.
„Vielleicht
will Herr Lehmann im nächsten Jahr mit uns feiern“, flüsterte sie der Mutter
ins Ohr, während der Vater ganz laut „Oh, du fröhliche…“, sang.
„Ja, vielleicht
will er das!“, lächelte die Mutter.